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Title Musik in Spielfilmen mit Ep ilepsie
Originaltitle: Musik in Spielfilmen mit Ep ilepsie
Erscheinungsjahr: 2015
Stichwort: AArtikel
Release: 00.00.0000

Handlung
Musik in Spielfilmen mit Epilepsie:
Am Beispiel von „Exploding girl“ und „The Exorcist“. Unser Nachdenken über Film und Musik bei Epilepsie geht mit cineastischen Methoden ein Zentralproblem der Krankheit an - den Beitrag des Films zum Bild, dass sich die Öffentlichkeit von dieser Krankheit macht.



Weitere Info
Musik in Spielfilmen mit Epilepsie.
Am Beispiel von „Exploding girl“ und „The Exorcist“

Vorbemerkungen
GeräuschMusik

Wir befassen uns hier mit allen Arten von Tonfolgen – Geräuschen oder Musik -, die im Lauf der beiden Filme „The exploding girl“ ( 2009) und „The exorcist“ (1073) erklingen. Die begleitende Filmmusik nennen wir darum „GeräuschMusik“. Das geschieht im Geiste von John Cage, der den Begriff "Geräusche" dem der "Musik" vorzog bzw. keine Wertung unterschiedlicher Geräuschen vornehmen wollte, seien diese nun Musik oder Geräusche für unsere Ohren. Ihnen gemeinsam soll sein, dass sie nicht zufällig nacheinander „erklingen“ sondern dem vertrauten Musikverständnis entsprechend zu einander gehören, möge dem Zuhörer der Zusammenhang auch unvertraut sein.
Epilepsie im Spielfilm

Es ist u. E. zu früh, das Phänomen spezifischer GeräuschMusik in Bezug auf Spielfilme zu beschreiben. Zu wenig ist bisher dazu analysiert. Selbst das Feld der Filme, in denen von Epilepsie die Rede ist, ist bisher zu wenig bearbeitet. Zu viele und zu verschiedene Filme schliessen Epilepsie ein. Unsere Datenbank „Bildstörung“ macht ja nur einen wenig systematisierten Überblick möglich. Sie umfasst zur Zeit (März 2015) 515 Titel. Es handelt sich nicht nur um Filme, in denen Epilepsie eine Haupt- oder eine Nebenrolle spielt. Verzeichnet sind alle „Filmgeschichten“, die irgendwie und irgendwo auf die chronische Erkrankung Epilepsie anspielen.

Epilepsie und Vorurteile

Schliesslich ein kurzes Wort zum Sinn der Behandlung eines Themas, das der Epilepsiediagnose, - therapie und -betreuung scheinbar so fern liegt. Unser Nachdenken über Film und Musik bei Epilepsie geht mit cineastischen Methoden ein Zentralproblem der Krankheit an. Diese Feststellung scheint auf den ersten Blick unverständlich oder zumindest gewagt. Was können unsere Beobachtungen zur Filmmusik mit Epilepsiebehandlung zu tun haben? Nun ist es aber auch in der Epileptologie zum Gemeinplatz geworden, dass das Leiden an Epilepsie mitverursacht ist von Vorstellungen, die sich die Öffentlichkeit durchgängig und unbelehrt vom Epilepsiekranken macht. Mehr Beachtung sollte auch unter Epileptologen die Tatsache finden, dass wir es hier mit einem Spezifikum dieser Krankheit und nicht nur mit bekannten und beklagten "Nebenwirkungen" von Krankheit allgemein.

Der medizinischen (! ja, medizinischen) Erkenntnis lässt nun die ärztliche Wissenschaft keine angemessenen Taten folgen. Die Generalisierung übersieht keineswegs die enormen Fortschritte, die das Arzt-Patienten-Verhältnis gerade in der Epileptologie erfahren hat. Umso bedrückender ist der Mangel an praktischem Verständnis für die angedeutete Ursachenverkettung.

Wir haben in einer Besprechung des Films „Vergeblicher Kampf“ exemplarisch zu zeigen versucht, dass herausragende epileptologische Experten dem Bild der Epilepsie in der Öffentlichkeit keine zentrale Bedeutung zuerkennen, den aufklärenden Kampf vielmehr gegen andere Interessen brüsk zurückstellen. Die Klage in Form einer Kurzbesprechung ist hier in „Bildstörung“ nachzulesen. Handelte es sich um individuelle Einschätzungen, wäre der Fall besser unbeachtet und unzensiert geblieben. Er findet aber unkritische Anerkennung und Nutzung in der „Gesellschaft für Epileptologie“, dem Verband der deutschen Epileptologen. Unsere Beobachtungen zur Filmmusik stellen wir darum bewusst in den grösseren Rahmen der Vorurteilsforschung und fragen uns, ob die am meisten helfenden und heilenden Kräfte nicht vor den eigenen Vorurteilen die Augen verschliessen.

Es genügt nicht, vorurteilsvollem Argumentieren und cineastischem Gestalten – wo immer – nachzugehen und seine Formen aufzuzeigen. Es reicht nicht, Alternativen dazu bekannt zu machen. Es gilt vielmehr in Spielfilmanalysen jenen Schatz zu heben, der der Vorurteilsbekämpfung zu wichtigen Erkenntnissen verhilft. Ausgehend von der Hypothese, dass Spielfilme uns etwas über die „Filme“ sagen können, die im Hirn des Kinobesuchers ablaufen, lohnt es erst die Mühe, Epilepsiedarstellung in Bild und Ton zu analysieren.

Diegetische und nicht-diegetische Filmmusik

Für die Interpretation von Filmmusik in Filmen mit Epilepsie ist hier die filmtheoretische Unterscheidung von diegetisch und nicht-diegetisch anzusprechen. Wir gehen hier so ausführlich darauf ein, weil das Phänomen zwar allgemein bekannt , aber sehr häufig beim Filmschauen „vergessen“ wird. Für unsere Interpretation der beiden hier besprochenen Filme geben wir dem Nachspüren von Diegese eine besondere Bedeutung.
Diegetisch sind Geräusche, die Teil der Filmerzählung selbst sind. (z.B. Ein Pianist spielt im Film Bach). Der Handlung auf dem Tonstreifen hinzugefügte Geräusche gelten als nicht-diegetisch. ( z.B. Ein Walzer von Strauss erklingt im Weltraum). Dass keine Erscheinung – Bild oder Ton - in einem Spielfilm „original“ sein muss, ja dass eigentlich immer alles „montiert“ und „gemischt“ wird, ist hier als selbstverständlich vorausgesetzt.

Was diegetische und was nicht-diegetischer Soundtrack ist, lässt sich schlaglichtartig an Sergio Leone’s „Spiel mir das Lied vom Tod“ (C’era una volta il west, Italien 1968) erläutern.
Die orchestrale Musik von „C’era una volta il west“ erklingt auf “Youtube” unter: https://www.youtube.com/watch?v=Ofzlw0pofPE
Die Eingangsszene, in der diegetische und nicht-diegetische Musik erklingt, findet sich unter: https://www.youtube.com/watch?v=D_tt83itYA8
Fast bis zum Ende der Eingangsszene, erklingt eine noch vor dem Filmtitel einsetzende „Symphonie“, die sich aus reinen Umwelt- und Umfeldgeräuschen zusammensetzt. Sie stimmt meisterhaft ein ins folgende epische Geschehen. Sie ist Teil der Szenerie selbst, also diegetisch. Erst gegen Ende der Eingangssequenz werden die Umfeldgeräusche scheinbar von einer ausserhalb der Szene (nicht-diegetisch) kommenden klassischen Filmmusik überlagert. Ein eindringliches, kunstvolles „Mundharmonika“ – Thema erklingt auf dem staubigen Bahnhofgelände. Dass der Schein trügt, ist sogleich zu erkennen. Die Töne lassen die drei Pistoleros, die auf „Mundharmonika“, den Helden des Epos warten, stutzen.

Wer zum ersten Mal den Film sieht, realisiert vielleicht erst beim Anblick von „Mundharmonika“ selbst oder gar erst wenn man ihn in Grossaufnahme spielen sieht, dass es sich um eine diegetische GeräuschMusik handelt. Kaum setzt „Mundharmonika“ das kleine Instrument ab, erklingt nun aber leise im Hintergrund nicht-diegetisch eines der Leitthemen des Films.

Das vielschichtige Medium

Am Anfang von „C‘ era una volta il West“ erleben wir also ein sehr kunstvolles Zusammenspiel von drei Geräuschebenen: die Geräusche der Szene, die wir sehen, die Geräusche, deren Herkunft wir noch nicht kennen, die aber aus der Szene stammen und Geräusche, die aus dramaturgischen Gründen dem Film beigegeben sind. Wir wissen es noch nicht, aber die GeräuschMusik des Eingangs umschreibt den Kern des folgenden Epos. Das dynamische Zentrum des Epos – der Mord begleitet von Mundharmonika-Musik des späteren „Mundharmonika“ und seine Folgen - alles ist schon da. Die „Mischung“ der Ton- und Bildfolgen verweist auf vielschichtige Erzählebenen, deren so nur der Film fähig ist.

Welches andere Medium wäre darum geeignet uns in die Vielschichtigkeit einer Krankheit einzuführen, die zwar bekannten und gut zu beschreibenden organischen Ursprungs ist, sich aber auf mehreren bedeutungsvollen Erlebniseben präsentiert: in der oft erschreckenden Bildsequenz des Anfallsgeschehens, im Ablauf innerer Bilder und Tonfolgen, in mitteilbaren Erfahrungen des Betroffenen, im Erleben der Hinzukommenden, in den häufig alles andere als realen Erwartungen und Vorstellungen beider und schliesslich – kaum zu übersehen und zu überhören aber selten direkt dazugerechnet – im Umfeld, das seinerseits aus bewegten lebenden Körpern, verrückten toten Gegenständen und den von ihnen erzeugten Geräuschen besteht. Man könnte einwenden, dass nichts von dem Gesagten „eigentlich“ Epilepsie sei sondern „nur“ einen bestimmten epileptischen Anfallstyp charakterisiert. Und man hätte Recht. Aber grad dies ist das Drama der Krankheit. Sie ist als solche weder zu hören noch zu sehen und sie beeindruckt doch gerade Auge und Ohr – und letztlich die Phantasie. Ein weites Feld für Vorurteilsforschung.

The Exploding Girl

Dokumentarische Geräuschkulisse

„The exploding girl“ ist scheinbar nur von diegetischer GeräuschMusik begleitet. Das unterstreicht einen Dokumentcharakter, den sich der ganze Film bewusst gibt. Die Szenenfolgen, die Kameraführung, die Geräuschkulissen vermitteln dem Zuschauer die Illusion, Beobachter einer eher zufälligen Abfolge von Alltagsereignissen denn eines geplanten Spiels zu sein. Dabei taucht immer wieder Geräuschmusik auf, deren Herkunft nicht die gezeigte Szene ist, aber – angedeutet – das innere Hören der Protagonistin vor und im Anfall sein könnte.

Dies geschieht sehr dezent im Gegensatz zu Geräuschkulissen der in Mode gekommenen DokuFiction. Hier wird mit dick aufgetragen Mitteln der Kameraführung (Handkamera, verwackelte Bilder, amateurhaftes Filmen) und der Erzähltechnik (Filmteam als Teil der Erzählung, Verweis auf den „Berichtscharakter“ des Geschehens und der Authentizität des Falles ) der Zuschauer im Glauben gewiegt, ein filmisches Dokument vor sich zu haben. Das Phänomen ist in aktuellen Spielfilmen mit Epilepsie immer wieder zu beobachten, insbesondere wenn sie dem Horrorgenre zuzurechnen sind.

Filmerzählung

Die zwanzigjährige, epilepsiekranke Ivy hat in ihrem Collegekameraden Greg einen festen Freund. In den Ferien, kehrt sie zu ihrer Mutter nach New York heim. Sie trifft zufällig auf ihren Jugendfreund Al, der froh ist, bei ihr wohnen zu können, weil er ohne Bleibe ist. Zwischen Greg, der sich im Filmverlauf von ihr trennt, und Al, der ihr eine aufkeimende Liebe nicht recht mitzuteilen weiss, hin und her gerissen, verliert Ivy den Boden unter den Füssen. Unsicherheit, Stress und Alkohol bringen ihre Epilepsie in Anfällen wieder zum „Ausbruch“. Durch die Stadt stromernd und Party besuchend entdecken Ivy und Al zuletzt doch, dass sie zueinander passen. Ob daraus Liebe wird, bleibt offen.

Ivys Epilepsie wird im Film mehrmals angesprochen, besonders deutlich bei einem Arztbesuch und dann wiederholt durch Anfälle, die unterschiedliche Formen haben (Aura, „Magenkrampf“, morgendlicher „jerk“, Grand Mal-Anfall mit Zuckungen)

Szenischer Ablauf des Grand Mal-Anfalls

Nachdem Ivy sich nicht entscheiden kann, Al zu sagen, dass sie ihn liebt, hat sie einen Grand mal-Anfall (generalisierter tonisch-klonischer Anfall). Die Anfallssequenz setzt ein mit einem summenden Geräusch (59:46), begleitet von einem träumerischen Blick und einem Schlucken (Ivy in Grossaufnahme). Ivy’s Stimme klingt plötzlich dumpf, wenn sie sagt: „Ich muss sofort nach unten gehen“ (59:52).

Das Summgeräusch hat sich zu Pfeiftönen gesteigert. Ivy steht auf. Schnitt. Man sieht sie - durch Gegenstände und den neben ihr sitzenden Al fast verdeckt - auf einem Bett zuckend und krampfend. (59:59) Das Pfeifen ist durch Schluck- und Schluchzgeräusche abgelöst. Leises, stossweises und abebbendes Ein- und Ausatmen. Al vor ihr auf der Bettkante leise: „Ivy“ (1:01:36). Man hört im Hintergrund Verkehrslärm. Al mehrmals „Ivy“? Schnitt Der Verkehrslärm wird stärker. Ivy und Al sitzen im Fond eines Wagens. Schnitt: Ivy morgens im Bett.

Die geräusch-musikalischen Elemente der Anfallsszene setzen sich aus Geräuschen zusammen, die Ivy während des Anfalls macht, sowie aus Summ- und Pfeiftönen, die aus dem Nichts zu kommen scheinen. Sie sind als Teil der Aura zu verstehen, die dem dann sichtbaren Anfall voraufgeht, aber nur dem Betroffenen bemerklich wird. Die Aura warnt Ivy vor dem heraufziehenden Grand mal-Anfall. Deswegen ihr „Ich muss sofort nach unten gehen.“ Schliesslich wechselt plötzlich die „Tonart“ ihrer Stimme, die gedämpft wie aus dem Wasser kommend klingt.

Die Quelle der GeräuschMusik ist für den Besucher oft schwer auszumachen. Die Anfallsgeräusche – insbesondere stossweises Atmen - stammen von Ivy und man kann annehmen, dass sie selbst diese Geräusche nicht hört. Das Summen und Pfeiffen kann als „inneres Hören“ verstanden werden, eine Begleiterscheinung der Aura. Es kann nicht von Al vernommen werden also eigentlich auch nicht vom Zuschauer. Es ist diegetisch insofern es Teil der Filmszene ist und nicht-diegetisch insofern es in der Szene nicht erklingt. Für das uninformierte Hören des Zuschauers kommt es wie Filmmusik von ausserhalb der Szene.

Besonders komplex ist der Wechsel der Stimmlage in Ivy’s kurzer Antwort. Auch dieses Geräusch könnte nur von Ivy wahrgenommen werden, wenn es als Teil der Aura gedacht ist. Ivy hört ihre eigene Stimme durch die Aura modifiziert. Nicht ganz auszuschliess ist aber, dass Al ihre Stimme modifiziert zu hören bekommt. Es würde sich dann um ein diegetisches Geräusch handeln, das Ivy, Al und die Zuschauer vernehmen können.

GeräuschMusik und Anfallserfahrung

Die Komplexität insbesondere der Quellen der GeräuschMusik im Verlauf von Ivys Anfall regt dazu an, bei erneutem und informiertem Betrachten des Films auf tiefere Ebenen der Erfahrung der Protagonistin zu achten. Es gibt die Ebene der klassischen – sehr verhaltenen Geräusche der Epilepsie, die viele Zuschauer erwarten mögen: Atemzüge, Rascheln von Textilien, leises Schluchzen – und wenn man will die besorgte Stimme Al’s. Es gibt die Ebene der Sinneswahrnehmung des Menschen im Anfall, die ihrerseits aufgeteilt ist in eine Tonebene, die nur dem Menschen im Anfall zugänglich ist (Summen und Pfeifen) und die Ebene, die auch von anderen wahrgenommen werden könnte (Abfall der Tonhöhe).

Dazu gehören dann auch die Umfeldgeräusche, die der Anfall verursacht. Sie sind in der besprochenen Szene Hintergrundgeräusche und repräsentieren den „unbeteiligten“ Alltag, innerhalb dessen er geschieht. Die Dezenz und Verhaltenheit dieser Geräuschmusik verdankt sich der Genauigkeit und „Besorgtheit“ des Films selbst. Er übertreibt nicht, er registriert, er bewegt sich von den Zuschauererwartungen fort. Er bedient sie nicht.

In die Repräsentation des Innenlebens zweier junge Menschen passt sich die Darstellung des Anfalls ein. Dabei gehen die Autoren wiederum erstaunlich „realistisch“ vor, da sie die gezeigte Realität fachkundig in die mehreren Ebenen eines Anfallsgeschehens aufdröseln. Dabei muss hingenommen werden, dass der Zuschauer die Komplexität der Töne vereinfacht und sie als einfaches, diegetisches Geschehen des Films missversteht. Dieser Gefahr setzt sich der Film auch an einer anderen so markanten wie uncheinbaren Stelle, in der es um Ivys Epilepsie geht, aus. Hier kann nur kurz darauf verwiesen werden. Es soll damit auch auf die exzellennte Kenntnis sozial-medizinischen Verständnisses der Filmautoren verwiesen werden:

Ivy hat gerade die Trennungserklärung von Greg am Telefon vernommen. In ihr bricht wenn nicht die Welt doch jene Sicherheit zusammen, die ihre lockere, spielerische Beziehung zu Al ermöglichte. Ohne den Rückhalt Greg‘s wird sie später in ein anfallsgenerierendes Dilemma geraten, als Al sie direkt fragt, ob sie ihn lieben könnte.

Ivy reagiert sichtlich „verloren“ auf die für sie überraschende Situation des Verlassenwerdens und sucht verzweifelt Halt. Sie geht nach Hause und telefoniert ihrer Mutter. Das Telefonat ist ein einziger Hilferuf, der in der Frage endet, ob die Mutter bald nachhause komme. Diese hat – mit sich selbst beschäftigt – zu viele Dinge im Kopf als dass sie die Zwischentöne dieser Frage vernehmen könnte. Und so schliesst das Telefonat mit der Erklärung der Mutter, dass sie nicht weiss, wann sie heimkehrt und es auf jeden Fall spät werden wird. Ivy darauf: „Schade, ich hätte gern ein Bad genommen.“

Welcher in Epilepsie wenig erfahrene Zuschauer kann diese Feinzeichnung eines Lebens mit Epilepsie begreifen. Nur wer weiss, dass anfallsgefährdete Menschen in der Badewanne ertrinken können, begreift, was Ivy hier passiert. Sie kann sich nicht durch ein Bad aufhelfen und entspannen – und dass auch noch der Krankheit wegen, die ihr Inneres zur Explosion bringt. Diese hat sich mal wieder dramatisch auf einem Feld bemerkbar gemacht, auf der die meisten Menschen sich keine Blösse geben müssen und nicht schutzlos bleiben.

Epilepsie macht aus dem Erkrankten jemand anders aber nicht in dem landläufigen Sinne des Anfallsmenschen, des Sozialfalles oder gar des Monströsen sondern im Sinne: Man darf nicht explodieren. Der Spielfilm ist nur in Ausnahmefällen zu solchen "Innensichten" in der Lage. Einer der Gründe ist der Zwang, bildhaft sinnlich wirken zu müssen. Ein Filmautor muss Gründe haben, eine Szene bringen zu wollen in der Erklenntnis, sie derart "verschenken" zu müssen. Den Erwartungen handfester Aufklärung, preiswürdiger Beschäftigung mit dem Problemfall "Epilepsie" wird so viel Takt natürlich nicht gerecht!

„Exploding Girl“ ist ein gewollt „dokumentarischer“ Spielfilm. Es will darmit über die realistische Szenerie hinaus, die bewusst eine typisch „alltägliche“ Zeitverschwendung einbezieht, die seelische, empfindsame Entwicklung zwei Menschen in der Lebensepoche erster Liebe dargestellen. So rechtfertig sich auch der bizarre Titel: Ivy explodiert oder umgangssprachlicher formuliert, sie rastet aus – gefühlsmässig in Unsicherheit und in die Not der Entscheidung gedrängt.

Diese Interpretation stellt bewusst nur einen Aspekt des Films in den Mittelpunkt: Das Leben mit Epilepsie aus dem Blickwinkel zweier Menschen gesehen, die sich dem Rätsel aufkeimenden Verliebtwerdens stellen müssen. Was der Film zu diesem Rätsel zu sagen hat, wie er zu unterscheiden sucht, zwischen Freundschaft und Liebe, das muss weiterem Nachschauen vorbehalten bleiben.

Der Exorzist

Eine pseudo-dokumentarische Geräuschkulisse

Im Gegensatz zu „The exploding girl“ verfügt „The exorcist“ über eine raffinierte und vielseitige, aus puren Geräuschen aber auch aus orchestraler Musik gemischter „GeräuschMusik“ . Hier sind die Liste der Titel und einige Hörbeispiele: http://www.soundtrack.net/album/music-excerpts-from-the-exorcist/

In einer Filmrezension des „Spiegels“ aus dem Jahr 1974 wird mit grosser Präzision und umfassendem Quellenwissen diese GeräuschMusik beschrieben, von der Truffaut zurecht sagt: "Der beste Soundtrack, den es je in der Geschichte des Films gab." (Spiegel, s.u.) Der Spiegelautor führt zum Soundtrack aus:

„Der Film insistiert mit spannungsgeladener Geduld auf der atmosphärischen Genauigkeiten seiner Milieus -- so als wollte er seine späteren "Unglaubwürdigkeiten" ganz in perfekte Realität einhüllen. Er lässt den Schrecken nur sekundenlang aufblitzen -- in polternden Geräuschen, die auf die Stille folgen, in plötzlich am Rande auftauchenden Gestalten der Armut, der Krankheit, des Elends……..
Wie bei keinem Film zuvor hängt die Wirkung des "Exorzisten" entscheidend vom Soundtrack, von der Mischung aus Musik und Geräusch, ab……… Für diese "diabolische wilde Ehe von Technologie und Perversität" ("Financial Times") suchten Techniker monatelang nach Geräuschen, die den Zuschauer in die unheimliche und ungemütliche Stimmung versetzen sollten, wie sie Friedkin vorschwebte.

Um Satan auch akustisch präsent zu machen, wurde das Kreischen von Schweinen während ihrer Schlachtung aufgenommen, ebenso wie das Bellen und Heulen von Zwitterhunden. Hamster wurden in Kesselpauken eingeschlossen, um ihr verzweifeltes Kratzen aufzuzeichnen; Bienen wurden in Krüge und Töpfe gesperrt, um ihr wildes Summen auf Band zu bannen. Einer der Tonspezialisten ließ seine Freundin rohes Eiweiß in Unmengen schlucken -- bis zum Erbrechen; diese gurgelnden Geräusche stellte er dem Leibhaftigen dann zur Verfügung.

Die perfide erzeugten Urlaute wurden mit überlauten Zivilisationsgeräuschen wie U-Bahn-Rattern, Telephon-Klingeln, dem Heulen von Polizei-Sirenen wirksam• kontrastiert und mit zeitgenössischer E-Musik untermalt. Die Kombination zwischen Gurgeln und Jaulen auf der einen, Penderecki, Henze und Webern auf der anderen Seite dient vor allem dazu, den Zuschauer psychisch aufzuknacken, ihn in die gewünschte Teufelsfurcht zu versetzen.“ (Der Spiegel, 23.9.1974 http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41674117.html

Das Seltsame ist, der Zuschauer realisiert diesen Soundtrack häufig als diegetisch. Die Grenze von Diegetisch und Nicht-Diegetisch wird von den Filmautoiren bewusst verwischt. Der Film will zwei angeblich gleicherweise reale Welten in Beziehung setzen, die der Dämonen und die unserer Wirklichkeit, in die der Teufel aber „real“ hineinzuwirken sucht. "The Exorcist" zielt nicht hitchcockartig auf den „Schrecken“ um seiner selbst willen sondern darauf, den Zuschauer einer schrecklichen Welt auszuliefern. Sie ist im Film zweigeteilt: Epilepsie und Besessensein, eine noch wirksame Gratwanderung zwischen dem Zeitalter des Aberglaubens und dem der Wissenschaft.

Zu sehen ist die jenseitige Welt allerdings nur ausnahmsweise – z.B. während einer sekundenlangen Halluzination Regan‘s. Viele Tonfolgen jedoch, die in „unserer“ Welt Musik genannt werden, klingen in „The exorcist“ wie Geräusche aus anderen Sphären, z.B. das Leitmotiv des Films, die „Tubular Bells“ von Mike Oldfield.

„The exorcist“ kann noch nicht zu den DocuFictions oder Mock-Documentaries gerechnet werden, die im Horrorgenre etwa mit dem pseudo-dokumentarischen Film „Blair wich project“ (1999) aufkommen und mit den Filmen über den Fall der epilepsiekranken Anneliese Michels (Requiem, 2006) beliebt werden. „The Exorcist“ – obwohl eindeutig „fiction“ – gibt sich szenenweise, in den medizinischen Szenen besonders als „Dokument“. (siehe eine Reihe von Beispielen anhand von Google search „ Requiem film“) Die Nähe von Epilepsie und Dämonie in „The Exorcist“ erklärt sich da von selbst.

Die Filmerzählung

Die 12jährige Regan MacNeil lebt mit ihrer Mutter, einer bekannten Filmschauspielerin. Enttäuscht von der Vergesslichkeit des getrennt lebenden Vaters, der ihr nicht zum Geburtstag gratuliert hat, führt sie sich in den folgenden Tagen seltsam auf. Ihr Verhalten wechselt von Unsicherheit zur Aggression und steigert sich zu anfallartigen, erschreckenden Zuständen. Die Ärzte diagnostizieren Temporallappen-Epilepsie, raten dann aber nach erfolgloser anti-epileptischer Behandlung, einen Exorzisten hinzuzuziehen. Der am Glauben zweifelnde junge Jesuit Damien Karras und der mit dem Teufel bestens vertraute ältere Jesuitenpater Lancaster Merrin heilen Regan durch Exorzismus, kommen aber in dessen Verlauf um.

Geräusch/Musik und Anfallserfahrung

Der „Exorcist“ zeigt eigentlich in keiner Szene epilepsiespezifische Aktivitäten der Patientin. Ums so erstaunlicher, dass er in den umfangreichen ärztlichen Szenen nicht nur den typischen Diagnoseverlauf darstellt sondern auch über klare ärztliche Aussagen, die erst später relativiert werden, eindeutig Epilepsie als Anfallserkrankung ins Spiel bringt. Die Filmautoren verhalten sich wie Berichterstatter, die an die Gründe des Geschehens nicht glauben, dafür um so mehr den Zuschauer glauben machen möchten. Auch in den "Extras" der DVD kommt Wlliam Friedkin nicht einmal das Wort Epilepsie über die Lippen - soweit erinnerlich.

Und so ist auch die GeräuschMusik eingesetzt. Den schlimmsten Zuschauererwartungen entgegenkommend, sind die „Anfallssequenzen“ von GeräuschMusik begleitet, die zu einem realen Anfall gehören könnten, diese aber tatsächlich diabolisch verzerren. Von Anfang an ist die Einwirkung des Dämons sichtbar und erschreckend vernehmlich. Nicht selten wird etwas suggeriert, was wir schon bei „The exploding girl“ vermerkt haben: „Anfällen“ und ihre „Prodrome“ erzeugen GeräuschMusik, die der inneren Wahrnehmung des Patienten entstammen könnte.

Der Tenor der GeräuschMusik ist in jeder Hinsicht dämonisch und versetzt den Zuschauer in einen Zustand anhaltender Furcht. Die grausamste Geräuschkulisse begleitet womöglich die realistischste Szene. Während der Diagnosephase bekommt der Zuschauer durch die GeräuschMusik den Eindruck, dass Regan Höllenqualen im Dienst der medizinischen Aufklärung ertragen muss. Der extreme Realismus und die extreme Verzerrung des dabei Vorgehenden gehört vielleicht zu den erwartungs- oder vorurteilsbeladensten Ereignisse, die in einem Film vorkommen, in dem es auch um Epilepsie geht.

Der Soundtrack erlaubt dem Zuschauer in keinem Moment Entspannung. Das gilt auch für das an und für sich heitere Leitmotiv. Zunächst scheint das kleine leicht irritierende Musikstück abgehoben von den übrigen „Umwelt“- und Schreckensgeräusch. Es erklingt ja auch in einem Moment der heiteren Normalität. Chris MacNeil kehrt von der Filmarbeit kommend heim (14:47). Dabei ertönt die mysteriöse Folge von Klavier- und Glockenspieltönen, die ins Unendliche fortklingen könnte. Es handelt sich um die ersten 3 Minuten von "Tubular Bells", von Mike Oldfield (https://www.youtube.com/watch?v=3IhNucymsq4)

Eine der wenigen „normalen“, heiteren Szenen ist von einer nicht-diegetische Musik begleitet. Ihre Quelle ist nicht die Szene. Und doch scheint sie gemacht, um die jenseitige Welt aufklingen zu lassen, die den Zuschauer weiterhin gefangen hält.

Das Klavier- und Glockenspiel erklingt noch einmal ganz kurz über den letzten Bildern des Films auf. Es wird brusk gestoppt durch den Filmabspann, um kurz vor dem Ende wieder aufzutauchen. Die Normalität hat sich wiedereingestellt aber die Hoffnung darauf ist vergeblich. Noch ist das teuflische Spiel nicht beendet. E wird sich in alle Ewigkeit wiederholen als die Verkehrung der Normalität.

Geräuschmusik und das Spiel mit den Erwartungen

So verhalten „The exploding girl“ mit Epilepsie und seinen Folgen für den Alltag umgeht, so brutal beutet „The exorcist“ die bestehenden Vorbehalte und Ängste der Öffentlichkeit bei Epilepsie aus.
Der (pseudo-)diegetische Charakter in beiden Filmen signalisiert hier die dämonische Zuordnung der Vergangenheit. Dort kann er dem aufmerksamen (oder angeleiteten) Zuschauer eine Hilfe sein, die Breite der Formen und die Tiefe des Erlebens einer Epilepsiekranken zu verstehen. Mit dieser Erkenntnis sind keine Schrecken und nichts Ungewöhnliches verbunden. Die Beziehung der beiden jungen Menschen wird nicht beeinträchtigt durch die Krankheit der jungen Frau. Diese ist eher Anlass zu wechselseitiger Sorge und Aufmerksamkeit.

„The exorcist“ setzt hingegen die Unkenntnis und die falschen Erwartungen ein, die Epilepsie seit Jahrhunderten begleiten. Es wird in Bild und besonders im Ton alles getan, die Welt des Aberglaubens mit der der Krankheitsrealität in eins zu setzen. Besonders „diabolisch“ ausgedacht ist es, den Anstoss aus der Welt der Medizin kommen zu lassen, die Welt des Erfahrbaren für die des Überirdischen zu verlassen. Auch hier spielt die GeräuschMusik eine besonders verstärkende Rolle, wie wir oben angedeutet haben.

Der Kurzschluss liegt nahe, „The exploding girl“ einem breiten Publikum zu empfehlen, weil er Epilepsie gerecht wird und geeignet ist, Vorurteile auszuräumen. Entsprechend würde man vor „The exorcist“ warnen, weil hier ein traditionsverhaftetes Publikum fernerhin auf den erschreckenden Ursprung und die unerträglichen Folgen der Krankheit gestossen wird.

Nichts liegt uns ferner als so zu schliessen; denn beide Filme sind wegen ihrer cineastischen Qualität, ihres Unterhaltungswertes, ihrer Struktur und aufmerksamen Recherche bestens geeignet, über Epilepsie heute aufzuklären; denn dass ein breites Publikum in aller Welt der „heiligen Krankheit“ dämonische Züge nicht leichten Herzens aberkennenn wird, ist nicht Schuld des Autorenteams von „The exorcist“.

Betont werden sollte aber, dass die Feinanalyse von „The exploding girl“ wohl ohne eingehende Diskussion kaum zur Wirkung kommt, während „The exorcist“ seine Wahrheit vom ideologischen Ballast der Epilepsie geradewegs ins Publikum schreit. Hier werden die Erwartungen der Verunsicherung so übererfüllt, dass natürlich heute niemand mehr „dran glaubt“. Dort ist die Botschaft so unerwartet entwarnend, dass es sich nur „um einen Einzelfall“ handeln kann.

stefan heiner, 23.6.2015

Filme, die beispielhaft durch ihre Hauptmusik geprägt sind:
Der letzte der Mohikaner (The Gail)
C’era una volta il west (Moriconi)
Morte a Venezia (Mahler)
2001 (Strauss)
Solaris (Bach)
Melancholia (Wagner)

Filme, in denen ausser Anfallsgeräuschen auch klassische Filmmusik zu hören ist:
Cleopatra (1963, Mankiewicz)
09 Epilepsieszene
https://www.youtube.com/watch?v=u_L2XJNUZrE
Rome (TV-Serie 2005-2007)
Rome Score Soundtrack 11 Caesar's Seizure
https://www.youtube.com/watch?v=LYaCokKSEPQ
Stargate (Kanda, 2009 – 2011; Kinofilm Stargate aus dem Jahre 1994)
Stargate Universe Soundtrack - Seizure - Amanda Perry theme
"Seizure" is the fifteenth episode in the second season of Stargate Universe
https://www.youtube.com/watch?v=H2ldJHWjagI
Nicholas Rush and Amanda Perry – Fallen
https://www.youtube.com/watch?v=CIiUDLYTaYU

Zusammenfassung:
http://stargate.wikia.com/wiki/Seizure

Epileptischer Anfall
Stargate Universe – 2.18 – “Epilog” (“Epilogue”) Review
http://www.zukunftia.de/3378/stargate-universe-2-18-epilog-epilogue-review/
Da Jeanie unter einer Epilepsie leidet besteht die Gefahr, dass die Naniten auch ihr Gehirn reparieren, was auch bei ihr zu einem, wie Rodney es ausdrückt, Reset des Gehirns führen würde.
Serie Stargate Atlantis, Fehlentscheidung (Originaltitel Miller’s Crossing), Staffel Vier, Code / Nr. 4x09 / 69, DVD-Nr.4.3, Weltpremiere 30.11.2007, Deutschlandpremiere 25.03.2009
http://stargate-wiki.de/wiki/Fehlentscheidung

Folgende Filme könnten neben den beiden hier behandelten zur Untersuchung des Soundtracks der Epilepsie, der Musik der Anfälle herangezogen werden. Sie erlauben besonders ihrer grossen Verbreitung wegen spezifische Aussagen für die Vorurteilsforschung:
Titel Epilept. Anfall Diegetisch Nicht-diegetisch WW BOG in Mio $
Exorzist, Der Evident, Hinweis Umfeldgeräusche Filmmusik 120
Frankie and Johnny Evident, Hinweis Umfeldgeräusche Filmmusik 2,7
Requiem Evident, Hinweis Anfallsgeräusche Filmmusik 262,460
Cleopatra Evident, Hinweis Anfallsgeräusche Filmmusik



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