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Title 1900
Originaltitle: Novecento
Regie: Bernardo Bertolucci
Darsteller: Robert De Niro, Gérard Depardieu, Dominique Sanda
Erscheinungsjahr: 1976
Land: Italien
Stichwort: Epilepsie, Anfälle, epileptischer Anfall
Release: 16.08.1976

Handlung
Alfredo, Sohn eines Gutsbesitzers, und Olmo, Sohn eines Landarbeiters, sind am gleichen Tag geboren und auf dem gleichen Gut in der Po-Ebene aufgewachsen. Der Film porträtiert ihr Leben und die Geschichte Italiens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die beiden suchen gemeinsam eine Prostituierte auf. Dies erleidet von den beiden Männern schikaniert einen epileptischen Anfall.


Weitere Info
Eine Prostituierte, mit der sich die beide jungen Leute "vergnügen", erleidet einen epileptischen Anfall. Der Arbeitersohn ist mitfühlend und sucht hilflos zu helfen. Der Gutsbesitzersohn will nur flüchten

16/01/02
Lieber Hans Jürgen,
folgend einige Überlegungen zu Deinem Artikel "Als ob mir eine Wolke in den Kopf steigt….." Ich möchte eine strukturierte Antwort darauf schreiben und würde gern Deinen leicht gekürzten Artikel mit dieser Antwort ins Diskussionsforum unserer Anthologie stellen. Das Ganze könnte eine Diskussion der Anfallsszene in "Novecento" sein.
Dafür würde ich von Dir den gesamten Text ab "Eine Szene in Novecento…….." nehmen. Ich würde nur die Zeilen zwischen "Aus Zeitgründen………. Film dazugehört" streichen. Dafür würde ich den Anfang Deines Artikels "Ich will nachdenken über ………….reinsten erhält." an den Anfang des "Forum"-Beitrags setzen. Wie siehst Du dies?
Über Deine wirklich erhellende Interpretation nachdenkend, habe ich mich auf unsicheres Gebiet begeben und weiß selbst nicht, ob ich alles so sagen will, wie ich es sage. Ich warte erstmal Deine Antwort auf meine Beobachtungen ab.
Deine Interpretation des Anfalls in "Novecento" als "Reaktion auf eine verletztende Attacke" und im Dienst einer "funktionalen Differenzierung der Helden" ist überzeugend.
Medizinische Grundlage dafür ist einmal der "Kontroll- und Realitätsverlust". Die junge Frau klinkt sich damit aus dem erniedrigenden Dreieck unwiderruflich aus, was ihr zur Zeit, in dem der Film spielt, kein allein "sozialer" Protest erlaubt hätte.
Hilflosigkeit und Gefährdung nach einem Grand mal sind die medizinische Basis für eine Charakterisierung völlig unterschiedlichens Verhaltens der beiden Protagonisten. Alfredo flieht kopflos. Olmo handelt hilflos. Diese Grundhaltung differenziert die Helden, ihre Familien, die jeweilige Klasse, der sie angehören. Die Anfallsszene in "Novecento" ist eine Schlüsselszene, so unbedeutend sie im Gesamtopus auch wirkt. Solche funktionalen Rollen erhalten epileptische Anfälle, die wie Du unterstreichst meist zweitrangig sind, in Spielfilmen häufig. Mir ist das besonders an der völlig unbedeutenden und fast immer übersehenen Anfallsszene in "Frankie und Johnny" von Garry Marshall (Pretty Woman) aufgefallen.
Du hebst m.E. nicht genügend hervor, daß die in "Novecento" gezeigte Szene zwar präzis den Vorstellungen der Zuschauer von "dem epileptischen Anfall" entspricht. Daß diese aber durchaus nicht deckungsgleich ist mit den medizinischen Realitäten. Sie steht fraglos richtig im Dienst:
 der funktionalen Differenzierung
 der politischen (Protest)aussage
 der Verwendbarkeit genau dieses Ausschnittes aus den Realitäten des Novecento für "Novecento"
Verallgemeinernde Schlüsse auf Epilepsie erscheinen mir aber nicht zulässig. Auch deckt der Begriff "Fallsucht" nur sehr begrenzt die Realität der Epilepsie ab. Im Licht der medizinischen Erkenntnisse seit Jackson (der irgendwie den seit Hippokrates abgerissenen Faden wieder aufnimmt) hat die Bezeichnung praktisch keine Berechtigung mehr. Der Sturz ist (wie überhaupt der Anfall) nur noch ausnahmsweise Bestandteil des Krankheitsbildes. Diese Krankheit leidet tatsächlich wie kaum eine andere daran, daß sich ihr öffentlich und kulturell transportiertes "Bild" bis zur Unkenntlichkeit von der Realität entfernt hat. Nun handelt die Szene in "Novecento" ja nicht von Epilepsie sondern nur von einem epileptischen Anfall. Das ist in vielen anderen Spielfilmen, in denen epileptische Anfälle vorkommen, anders. Hier nimmt die Krankheit überhäufig immer nur und immer wieder die Gestalt des Grand mal an. Das ist also ein anderes Thema.
Festzuhalten ist nur, daß das "Bild der Epilepsie" im Gesamten (Verallgemeinerungen) wie im Detail (Fehlinformationen) von einer antidiskriminatorischen Kulturkritik stets neu zurechtzurücken ist. Anders ist der seit zwei Jahrtausenden anhaltenden Diskriminierung von Menschen mit Epilepsie schwer beizukommen. So ein korrekturbedürftiges Detail ist die in "Novecento transportierte "Information", Alkoholtrinken löse epileptische Anfälle aus. Alkohol wirkt sogar antiepileptisch. Anfallauslösend ist der "Kater", d.h. das rasche Absinken des Alkoholspiegels im Blut. Gepaart mit Schlafentzug infolge einer durchzechten Nacht löst Alkoholgenuß am Ende der Feier zuweilen Anfälle aus. Die Bettszene ist aber insofern nicht frei erfunden, als die Zuschauer erwarten, daß jemand Bier trinkt und "epileptisch" zu Boden sinkt. Kaum ein Kinogänger würde einen epileptischen Anfall zu deuten wissen, der sich nach durchzechter Nacht aus heiterem Morgenhimmel ereignet. Zudem erfordert der szenische Kontext ja etwas ganz anderes.
Gebraucht wird der Grand mal im unmittelbaren Anschluß an erniedrigendes Sprechen und erpresserisches Handeln. Die Szene dafür setzt nahtlos an Unkenntnis und falsche Erwartung des Zuschauers an, bestätigt damit beide, vertieft und verstetigt damit beide im Kinopublikum.
Ich möchte also Deinen Satz "So präzis die Inszenierung der kleinen Szene gerade im Augenblick des Anfalls ist,…………" (7) nur einschränkend gelten lassen. Die Szene ist präzis, weil sie den Zuschauererwartungen entspricht, nicht weil sie sich mit der Realität, die sie beschreibt, voll vertraut gemacht hat. Sie widerspricht heutigen medizinischen Erkenntnissen, aber nicht dem heute noch gültigen medizinischen Alltagswissen: eine schöne Aporie! Denn welchen Sinn sollte es für Bertolucci haben, eine Szene dadurch zu ruinieren, daß er sie auf den neuesten medizinischen Stand bringt. Dieser Einwand trifft nicht nur hier zu. Er betrifft fast die gesamte Diskussion um "Krankheit und Behinderung im Spielfilm". Vor wenigen Tagen lief mal wieder "Dr. Kildare: Verhängnisvolle Diagnose", der geradezu ein Lehrfilm für zeitgenössische (medizinische) Fehl- und Vorurteile rund um die Epilepsie ist. Wollte man ihn auf den neusten medizinischen Stand bringen, könnte man ihn gleich aus dem Verkehr ziehen.
Hochinteressant und diskutierbar stellst Du dann Deine überzeugende Interpretation gerade dort in Frage, wo sie sozial-medizinisch von größter Bedeutung und für Menschen mit Epilepsie von elementarer Wichtigkeit werden könnte.
Das junge Mädchen bekommt sichtlich im Zusammenhang mit Erniedrigung, Zwang, Angst und Ausweglosigkeit einen epileptischen Anfall. In zeitlichem oder kausalem Zusammenhang? Zufall oder Absicht? Positiver Streß (Sport, Lust auf etwas, Tatendrang etc.) wirken antiepileptisch. Angsterzeugender Streß kann Anfallfolgen haben. Dies sind Erfahrungen, von denen Menschen mit Epilepsie nicht selten berichten. Der gezeigte Anfall ist eine "sinnhafte" (womöglich aber auch medizinisch sinnvolle) "Reaktion auf eine verletzend Attacke"….(7). Du scheinst ausschließen zu wollen, daß dies willentlich geschieht und klagst Deine Argumentation, die ganz wesentlich für die Bedeutung der Szene ist, an, sie laufe "auf ein Paradoxes" hinaus.
Bertolucci verwickelst Du auch in diesen Widerspruch: "So sehr deutlich ist, daß der Anfall nicht willentlich beeinflußt ist, so sehr wird ihm ein intentionales Moment zugeschrieben." Dies sagst Du zwar für Deine Interpretation, ohne deren "Bewegung" aber die Szene an Gewicht und Tiefe als Schlüsselszene sehr verlieren würde. Bertolucci überläßt es dem Zuschauer, die willentlichen und anfallsbedingten Gesten des Mädchens ineinanderübergehen zu sehen.
Nehmen wir willentlich im Sinn von "kurz entschlossen", so wäre diese Sicht wohl fragwürdig. Kurz entschlossen reagieren Menschen, die Epilepsie haben, mit einem Anfall nur, wenn sie ihn konkret auslösen (Handwedeln zur Erzeugung von Anfällen bei Fotosensitiven z.B.) bzw. jenen schwer ergründbaren Mechanismus in sich wirken lassen, demzufolge auch Menschen mit Epilepsie sowohl organisch ausgelöste epileptische Anfälle als auch seelisch begründete "pseudo-epileptische" Anfälle haben können. Denkbar wäre schließlich auch, daß ein junges Mädchen ihre gesundheitlichen Erfahrungen für eine bewußte Abwehrreaktion einsetzt und einen Anfall schlicht spielt. Felix Krull hatte damit bekanntlich vor einer bornierten Militärkommission gute Erfolge. Schon dieser Hinweis verdeutlicht, wie unangebracht eine solche Annahme für die Figur des jungen Mädchens in "Novecento" sein würde. Dem Film die "Eselsbrücke" zu bauen, hier sei eben ein "pseudo-epileptischer" Anfall zusehen, hieße die medizinische Betrachtung eines historischen Epos wirklich zu weit zu treiben.
Aber wie sieht medizinisch betrachtet der "Rest einer subjektiven Intentionalität" (7) aus, auf den auch Du baust. In der Regel wird er dem Epilepsiepatienten nur halbherzig zugestanden. Streß gilt als sehr genereller Anfallsauslöser, der Anfälle eher mittelfristig den Durchbruch ebnet. Das Verhältnis von Anfall und Anfallsauslöser wird im ärztlichen Gespräch mit Patienten immer noch vorwiegend als mechanisch gedeutet im Sinne einer "anfallsauslösenden Situation", die willentliche Steuerung nur als Verhindern möglich macht, nicht aber "auslösend". Immerhin ist es damit erlaubt, die Geste des Mädchens dem Widerstand gegen äußere Zwänge und einem Befolgen der inneren "Stimme" zuzuschreiben. Deiner Interpretation wäre damit womöglich sogar gedient und das Paradox beseitigt.
Gedient wäre auch einer Betrachtung der Epilepsie, die den Anfall immer noch als sehr objektivierten Mechanismus des Kontrollverlusts versteht. Dies entspricht den aktuellen neurologischen Erkenntnissen, aber nicht unbedingt dem Erlebens eines Menschen, der Anfälle hat. Das medizinische Alltagswissen vom "Koma" registriert heute mit Emphase die begründete Vermutung, daß tief bewußtlos scheinende Menschen, ihre Umgebung weiter erleben. Daß dies im Fall eines "generalisierten tonisch-klonischen Anfalls" nicht der Fall sei, wird bei Epilepsie angenommen. Könnte es nicht doch anders sein? Das medizinische Alltagswissen indirekt Betroffener fragt immer wieder, ob "es" dem Betroffenen weh tute. Die Medizin verneint hier entschieden im Fall von "generalisierten tonisch-klonischen Anfällen". Zurecht? Der Diskussion um Kontrollverlust oder nicht wäre gedient, wenn die entsprechende Akte zumindest wieder geöffnet würde. Videogestützte Untersuchungen komplex-fokaler Anfälle haben gezeigt, daß verschiedene Bewußtseinsschichten verschiedenartig durch epileptogene Hirnaktivität beeinflußt wird. Vielleicht ist ja der "Kontrollverlust" eine der modernen Mythen, an denen Epilepsie weiterhin krankt.
Bertoluccis Einsatz eines epileptischen Anfalls scheint wie das Gesichtsfeld eines Janushauptes gestaltet sein. In der einen Richtung hebt er auf die falschen Erwartungen des Zuschauers ab, was das Entstehen eines Anfalls anlangt (Alkohol) und was die "soziale" stets überdramatisierten Folgen betrifft. In der anderen Richtung eröffnet er den Blick auf eine der Schulmedizin, nicht aber dem Erleben Erkrankter, wenig vertraute Landschaft. In ihr führt der Anfall keineswegs aus der Welt der Normalen hinaus. Hier geht "Kommunikationsverlust" nicht unbedingt mit totalem Erlebnisverlust einher. Die "gesellschaftliche Person" (8) verschwindet nicht ganz. Sie bleibt der Zuwendung, dem Verständnis und der Hilfe der Umgebung offen und bedürftig. Der Anfall kappt nicht alle Verbindungen. Selbst der Mensch im Anfall interagiert noch und sollte entsprechend behandelt werden. Ja, je weniger er dem rationalen Diskurs zugänglich erscheint, desto mehr fordert er den ganzheitlichen.
Der "fremde Einfluß", unter dem der Kranke steht, ist ja doch - wie wir heute wissen - immer noch sein eigenes Gehirn, das genauso strukturiert ist wie die Gehirne derjenigen, die entgeistert, voll Panik und Angst zuschauen. Die vollkommene Säkularisierung epileptischer Vorgänge, die Hippokrates fordert, ist noch nicht vollendet, solange "außermenschliche" Kräfte dafür verantwortlich gemacht werden. Natürlich kann religiösen Menschen nicht verwehrt werden, sich durch Epilepsie im Glauben an Übernatürliches bestärken zu lassen. Vielen Menschen können sich auch Blitz und Donner noch nicht anders erklären.
Es ist nicht ohne Grund immer vermutet worden, der epileptische Anfall lasse den Zuschauer über sich und sein Weltbild mehr als über den Betroffenen und seine "Entrückung" erschrecken. Und in der Tat wird der überwiegende Teil epileptischer Anfälle erst dramatisch, wenn er sich im Verhalten der Umstehenden spiegelt. Im Fall eines epileptischen Anfalls ist nachgewiesen, daß er für jedes Gehirn normal ist. Es wird Zeit, dies so zu sehen. Schmerz, Vergessen, Protest und Wut aber werfen uns wirklich "aus der alltäglichen Normalität der Kontinuität des Verhaltens" (9) - zum Glück. Denn wie "Emilia Galotti" lehrt, verliert nur der vor Ungeheuerlichkeiten den Verstand nicht, der keinen hat.
Wenn Alfredo also flieht und Olmo unbeholfen mit leidet, so geschieht das nur vordergründig angesichts eines epileptischen Anfalls. Sie stellen sich ihrer Klasse und Erziehung gemäß anders zu dem sozialen Protest, der damit "bewußt" verbunden ist. Sie reagieren mit Gesten der Verachtung bzw der Solidarität, zweier Handlungsantriebe, die Interaktion voraussetzen. Sie drücken Versagen (bei Hilfe) und Mitleid (statt Hilfe) aus. Kennzeichnet Olmo nicht auch, daß er zwar weiß, daß er handeln sollte, aber an entscheidenden Wendepunkten der Geschichte nicht recht weiß, wie? Geht nicht der Kontrollverlust, dem er und seinesgleichen zum Opfer fallen, vom Mangel an Kontakt zur Wirklichkeit aus?
Bertolucci's "Epilepsie" setzt sich einerseits der medizinischen Kritik aus und sollte ihr unterzogen werden - im Dienst der medizinischen Aufklärung darüber, was wir von Menschen mit Epilepsie wirklich zu erwarten haben. Die diskutierte Szene bietet sich aber ebenfalls dazu an, den konkreten Erfahrungen mit Epilepsie gegen (doch immer vorläufiges) medizinisches Wissen über Anfälle zu ihrem Recht zu verhelfen. Dem Spielfilm sollte man medizinische Recherche nur bis zu einer zumutbaren Grenze abverlangen. Die eigentliche Arbeit künstlerische Intuition mit sozial-medizinischer Dienlichkeit zu verbinden, ist wohl Aufgabe der Rezeption und der Interpretation.
Hanses hat Epilepsie insgesamt als "biographisches Konstrukt" analysiert (Hanses, A.: Epilepsie als biographisches Konstruktion. Donat, Bern 1996.) Epilepsie bedarf nach seinen Worten "der Bühne des Lebens, um von einer Krankheit zu einem Kranksein des betreffenden Menschen zu werden" (Hansen, 1996, 496)



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